Sandra Wiek
Sandra Wiek weiß auf die Stimmungen ihrer Kunden einzugehen, denn davon hängt der Erfolg ihrer Telefongespräche ab. Die 27-Jährige hat gelernt, ihre geringe Sehkraft durch ein gutes Gehör auszugleichen. Die Firma ExTox in Unna hat in ihr eine Angestellte gefunden, die lernen musste, ihre Schwäche zu akzeptieren und andere Stärken zu finden, ein steiniger Weg, dessen Bewältigung schließlich belohnt wurde.
Das Büro in dem Sandra Wiek sitzt ist hell, der Schreibtisch groß und aufgeräumt. Ihre wichtigsten Werkzeuge sind das Telefon und der Computer mit den beiden Bildschirmen und dem Lesegerät. Manch einer ihrer Kunden ist beeindruckt beim Anblick der Ausstattung, denn nach Standard sieht sie nicht aus. Früher wäre Sandra Wiek so eine Sonderbehandlung unangenehm gewesen. In der Schule und bei ihren Arbeitgebern wollte sie nicht auffallen. Im Unterricht setzte sie sich extra weit nach hinten, wollte normal sein, keine schlechten Augen haben, nicht behindert sein. Anfangs konnte sie den Eindruck aufrechterhalten, wie alle anderen zu sein. Obwohl sie ihren Lehrern und Mitschülern nichts von ihrer geerbten Gesichtsfeldeinschränkung erzählte, schaffte sie ihren Hauptschulabschluss und holte schließlich mit einigen Mühen auch ihren Realschulabschluss und dann das Fachabitur nach.
Doch mit der Ausbildung kamen die Probleme. Bei einer Bank in Düsseldorf versuchte die damals 21-jährige ihr Glück. „Am Anfang habe ich versucht, alles so hinzubekommen, ohne jemanden von meiner Krankheit zu erzählen. Das ging so lange gut bis meine Augen schlechter wurden und ich operiert werden musste.“ Aus den kleinen Schwierigkeiten wurden große, aus anfänglicher Nachsicht seitens der Bank resultierte Unverständnis und schließlich eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses. „Es hat einfach keinen Spaß mehr gemacht weil mein Arbeitgeber immer mehr Druck ausübte und nicht bereit war, z.B. einen größeren Monitor zu besorgen, den er ja nicht einmal selbst hätte bezahlen müssen.“ Weitere Operationen folgten, die allerdings aufgrund von Komplikationen zu einer Verschlechterung ihrer Sehleistung führten.
„Mittlerweile sehe ich auf einem Auge gar nichts mehr und auf dem anderen noch etwa 16 Prozent, unter solchen Voraussetzungen ist es schwer, eine Firma zu finden, die damit umgehen kann“, sagt Wiek, die in Ludger Osterkamp einen Chef gefunden hat, der sogar gezielt im LWL-Berufsbildungswerk (BBW) Soest nach einer Angestellten mit einer Sehbehinderung gesucht hat, ein ungewöhnlicher Fall, geht die Initiative doch normalerweise von der Ausbildungsstätte und ihren Absolventen aus.
Doch bis dahin musste Wiek noch einige Hürden nehmen, die schwerste war schließlich der Gang zum Arbeitsamt und damit das Eingeständnis, nach zahlreichen gescheiterten Arbeitsverhältnissen selbst keinen Ausweg mehr zu finden. Auf Empfehlung entschied sie sich für eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation im BBW. „Das hat mich erstmal Überwindung gekostet, denn dadurch musste ich offen zu meiner Behinderung stehen, bekam einen Schwerbehindertenausweis und machte eine besondere Ausbildung, die ich ja eigentlich nie gewollt hatte“, blickt Wiek zurück. Dass die spezielle Förderung aber auch viele Vorteile bringt und Hilfsmittel einem das Leben und Arbeiten leichter machen, wurde der Dortmunderin schnell klar. War sie früher mit ihren Problemen und Sorgen auf sich allein gestellt, lernte sie im BBW zudem viele Auszubildende mit gleichen oder ähnlichen Sehbehinderungen kennen, eine Situation, die ihr langsam klar machte, dass sie nicht zu einer kleinen ausgegrenzten Minderheit in der Gesellschaft gehört. Schnell konnte sich Wiek dann auch mit der neuen Chance und Umgebung anfreunden: „Dass mir im BBW eine Ausbildung ermöglicht wurde, war quasi die letzte Rettung. Ich hatte eigentlich nicht mehr an mich und ein gutes Ende dieser Odyssee geglaubt.“ Es folgten viele lehrreiche Monate, in denen sie von ihren Ausbildern gefordert und gefördert wurde und sich mit den anderen Auszubildenden anfreundete, zu denen sie auch heute noch Kontakt pflegt.
Besonderen Wert legt das Berufsbildungswerk auf praktische Erfahrungen, die die Auszubildenden in Firmen und anderen Institutionen sammeln sollen. So hospitierte Wiek unter anderem im Soester Kreishaus, wo sie die Gelegenheit bekam, beim Projekt „Guide4Blind“, einem Navigationssystem für blinde und sehbehinderte Menschen, mitzuwirken: „Ich habe wirklich interessante Projekte und Arbeitgeber kennenlernen dürfen, doch die Krönung war natürlich das Angebot aus Unna.“ Während eines Praktikums bei der Firma ExTox in Unna, die Gasmess-System entwickelt und vertreibt, sollte sich die berufliche Zukunft für Sandra Wiek entscheiden. „Ich habe vor längerer Zeit im Radio gehört, dass Menschen mit einer Sehbehinderung früher verstärkt in den Telefondienst vermittelt wurden weil sie ihre Sinne auf das Hören verlagern und z.B. Stimmungen besser wahrnehmen. Darum wollten wir gerne einer sehbehinderten Person die Chance ermöglichen, sich in unserer Telefonzentrale zu bewähren“, erklärt Osterkamp.
Mit souveränem Auftreten und ohne Scheu vor fremdsprachigen Kunden konnte Wiek überzeugen und sich gegen eine Mitbewerberin durchsetzen. Bevor sie fest angestellt wurde, beendete die junge Frau zunächst ihre Ausbildung bei ihrem neuen Arbeitgeber, von dem sie sich von Anfang an akzeptiert und integriert fühlte. „Wir haben alle unsere Macken und gerade die machen uns zu etwas besonderem. Hier soll sich jeder wohlfühlen und wenn mal etwas nicht läuft, dann spricht man darüber und räumt das Problem gemeinsam aus dem Weg“, beschreibt Osterkamp die Moral der Firma, der Familienfreundlichkeit wichtiger ist als der Profit, ein Prinzip, für das ExTox bereits ausgezeichnet wurde. In der neuen Firma hatte Wiek dann auch nicht mehr das Bedürfnis sich hinter einer Fassade verstecken zu müssen, sondern zu ihrer Behinderung stehen zu können.
Dieser offene Umgang brachte ihr nicht nur Sympathien bei den Kolleginnen und Kollegen ein, auch in baulicher und technischer Hinsicht bekam sie Unterstützung. „Alles was gebraucht wird, wird angeschafft“, so Ludger Osterkamp, der sich als nächstes darum kümmern will, dass das Treppenhaus stärker beleuchtet wird. Nicht nur die 27-jährige freut sich über die Annehmlichkeiten, auch die anderen Beschäftigten kommen gerne zur Arbeit, freuen sich über das gemeinsame Mittagessen oder die kleinen Duelle am Billardtisch.
Dass regelmäßig Kinder zu Besuch kommen, sieht man bereits beim Betreten des Gebäudes. Gemalte Bilder, Spielzeug und Musikinstrumente machen die Firma nicht nur für Kunden und Lieferanten einladend. „Wer bei uns anfängt, hat Pech gehabt, denn er muss bis zur Rente hierbleiben“, freut sich Osterkamp, dem der Charakter genauso wichtig ist wie Kompetenz. In Sandra Wiek hat er eine Mitarbeiterin gefunden, die für ihre Kunden nette Worte und für ihre Kollegen immer ein Lächeln übrig hat, beides authentisch und von Herzen, denn Sandra Wiek ist endlich angekommen.