Lena Schneider hat es geschafft
Zwei Jahre lang hatte sie nach ihrer Ausbildung zur Fachpraktikerin für Bürokommunikation im LWL-Berufsbildungswerk Soest (BBW Soest) einen Arbeitsplatz gesucht und mehr als 100 Bewerbungen geschrieben. Anfang 2017 bot ihr schließlich die Kasseler Emmeluth Baugesellschaft eine Stelle als Bürokraft an. Für die 24-Jährige war das gleich in doppelter Hinsicht ein Glücksfall, denn ihr Arbeitsplatz ist von ihrem Heimatort Körle nur rund 20 Kilometer entfernt, sodass sie bei ihrer Familie leben kann.
Seit ihrem 14. Lebensjahr hat Lena Schneider nur noch ein Prozent Sehkraft und gilt damit gesetzlich als blind. Sie leidet an Retinitis Pigmentosa, einer genetisch bedingten Augenkrankheit, die schrittweise ihre Netzhaut zerstört. Für ihre Arbeit im Büro nutzt Schneider daher neben einer speziellen Software, die den Inhalt von Dokumenten und E-Mails in Sprache übersetzt, auch ein Bildschirmlesegerät. Diese stark vergrößernde Lupe ermöglicht eine inverse Darstellung: „Ich wähle immer die helle Schrift auf dunklem Hintergrund – das ist besser zu erkennen als dunkler Text auf weißem Hintergrund“, erklärt die junge Frau.
Mit Hilfe dieser Ausstattung erstellt sie für das Hochbau-Unternehmen der Emmeluth Baugesellschaft eine Datenbank, die alle Mitarbeiter, Werkzeuge und Arbeitsgeräte erfasst und den aktuellen Baustellen zuordnet. Wie bei ihren Kolleginnen Barbara Göllner und Jutta Schnabel, mit denen sie ihr Büro teilt und die sie während ihrer ersten Wochen eingearbeitet haben, beginnt auch Lena Schneiders Arbeitstag mit dem Bearbeiten und Beantworten von E-Mails – mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihre Nachrichten nicht liest, sondern über die Sprachsoftware abruft.
„Die Poliere teilen mir auf diesem Weg Änderungen mit, also zum Beispiel neue Werkzeuge auf ihrer Baustelle oder Krankheitszeiten ihrer Mitarbeiter“, erläutert sie. „Früher mussten sie mich jedes Mal anrufen. Inzwischen habe ich eine Vorlage erstellt, auf der sie Änderungen vermerken oder ankreuzen können.“
Den Umgang mit Sprachsoftware und Bildschirmlesegerät sowie die Brailleschrift lernte sie im Rahmen der Blindentechnischen Grundausbildung am BBW Soest, einem Berufsvorbereitungsjahr, das vor allem für späterblindete junge Menschen konzipiert ist. Über ihre Berufswahl habe sie nicht lange nachdenken müssen, blickt Lena Schneider zurück: „Es war klar, dass die Arbeit im Büro das Richtige für mich ist. Deshalb habe ich nach dem Vorbereitungsjahr auch nichts anderes ausprobiert, sondern gleich mit der Ausbildung zur Fachpraktikerin für Bürokommunikation angefangen.
Drei Jahre lang, von 2012 bis 2015, lernte die junge Frau am BBW Soest alles, was sie für ihre Tätigkeit als Bürokraft braucht: Sie übte den Umgang mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel und mit Warenwirtschaftssystemen, gemeinsam mit ihren Mitschülern trainierte sie in einer Übungsfirma außerdem Verkaufsstrategien.
Trotz ihres IHK-Abschlusses gestaltete sich die Arbeitssuche nach ihrer Ausbildung jedoch äußerst schwierig. „Auf meine Bewerbungen bekam ich entweder eine Absage oder gar keine Antwort“, erzählt Lena Schneider. Zwar unterstützten sie die Arbeitsagentur und der Bildungsträger GSM, der sich auf die Jobvermittlung für Schwerbehinderte spezialisiert hat. „Doch obwohl meine Sachbearbeiter und Vermittler sehr engagiert waren, konnten sie ja auch nicht mehr tun, als mir immer wieder Stellen vorzuschlagen“, sagt die BBW-Absolventin. „Diese zwei Jahre waren eine schwierige Zeit, weil mir die Struktur eines Arbeitsalltags fehlte. Es ist für niemanden schön, arbeitslos zu sein.“
Dass sie schließlich den Job bei der Emmeluth Baugesellschaft bekam, verdankte sie nicht zuletzt dem engen Kontakt zwischen ihrer Familie und der Familie Emmeluth. „Schon ihr Vater, Großvater und Urgroßvater haben lange in unserer Firma gearbeitet; unsere Familien sind seit langem befreundet“, erzählt Kai Emmeluth. Neben dem Geschäftsführer und seiner Schwester Ilka Emmeluth, die für das Familienunternehmen die Öffentlichkeitsarbeit und den Internetauftritt organisiert hat, war deshalb auch Senior-Chef Volker Emmeluth eine treibende Kraft hinter der Einstellung der BBW-Absolventin.
„Unserem Vater lag es immer am Herzen, zu erfahren, wie es Lena geht“, sagt Ilka Emmeluth. „Als er von der erfolglosen Jobsuche hörte, fragte er sie, ob sie nicht bei uns arbeiten möchte.“
Ein dreimonatiges Praktikum während der Ausbildung am BBW hatte bereits gezeigt, dass die Zusammenarbeit gut funktionierte. Als es dann um die Festanstellung ging, trafen sich Kai und Volker Emmeluth mit Lena Schneider und Bärbel Leonhardt, ihrer ehemaligen Ausbilderin vom Berufsbildungswerk, um ein mögliches Aufgabenspektrum abzustecken. „Den Bereich Dokumentation hatten wir bis dahin sehr stiefmütterlich behandelt“, sagt Kai Emmeluth und lacht. „Wer arbeitet auf welcher Baustelle, sind dort unsere eigenen oder Mietcontainer im Einsatz, wo ist die dreifach ausziehbare Leiter, wo der Winkelschleifer? All diese Informationen waren bisher nirgendwo gebündelt. Das ist nun Lena Schneiders Aufgabe.“
Bärbel Leonhardt gab nicht nur vor der Anstellung Hinweise, welche Arbeiten die BBW-Absolventin mit ihren technischen Hilfsmitteln gut erledigen kann. Die Expertin unterstützte sie auch bei der Einarbeitung: Im Rahmen eines Jobcoachings, das die Arbeitsagentur finanzierte, half sie ihrer ehemaligen Auszubildenden auch dabei, ihre Arbeit zu organisieren.
Für die Emmeluth Baugesellschaft ist die Zusammenarbeit mit einer Mitarbeiterin mit Sehbehinderung eine Premiere. „Glücklicherweise hat das BBW Soest uns erst einmal die komplette Ausstattung des Arbeitsplatzes mit Software und Lesegerät ausgeliehen“, sagt der Geschäftsführer. Nach Ablauf der Probezeit werde die Arbeitsagentur die Kosten von rund 25.000 Euro für einen neuen Arbeitsplatz übernehmen.
Eigentlich hatten Kai Emmeluth und Lena Schneider die übliche Probezeit von einem halben Jahr vereinbart. Doch weil die Einarbeitung so erfolgreich war, erklärte der Arbeitgeber die Probezeit schon nach gut zwei Monaten für bestanden. Lena Schneider hat eine halbe Stelle; an drei Tagen in der Woche baut sie mit Hilfe des Microsoft-Programms Access die Datenbank auf, die sie später ständig aktualisieren soll. „Das Ziel ist, vor allem kleinere Geräte besser und effizienter zu nutzen“, erklärt der Geschäftsführer. Auch die Verwaltung der Urlaubs- und Krankheitstage der 90 Mitarbeiter des Hochbau-Unternehmens vereinfacht die Datenbank. Später sollen die 135 Mitarbeiter der Tiefbau-Firma ebenfalls erfasst werden; dann könnte Lena Schneiders Job auf eine volle Stelle aufgestockt werden.